Samstags um 12 Uhr vorm Karstadt an der Müllerstraße: Menschenmassen schieben sich vorbei an Obst- und SPD-Infoständen. Auf dem Leopoldplatz gegenüber bietet ein Flohmarkt Schnäppchen. Ich halte schon eine Weile Ausschau nach den Leuten von der Route 65 und werde langsam nervös.
Am bunten Route 65-Flyer in der Hand erkenne ich als erstes Susanne Pozek, Projektleiterin bei Kulturbewegt e.V.: Der Verein ist Träger der Route 65- und Route44-Touren mit Jugendlichen durch Berliner Kieze. Dann erscheinen auch der 19-jährige Diego, unser heutiger Führer durch den Sprengelkiez, und eine junge Frau, neu zugezogen und neugierig auf die heutige Tour.
Vor acht Jahren kam Diego aus Brasilien in den Sprengelkiez. Er wohnte mit seiner Mutter lange und gerne in der Triftstraße. In der Osterkirche wurde er konfirmiert, hier traktierte er das Schlagzeug im Jugendkeller. Den Sprengelkiez findet er nett und angenehm im Vergleich zu seiner jetzigen Wohngegend im nördlichen Wedding.
Unsere heutige Führung unter dem Titel "Afrika küsst Asien" wird leider vorerst die letzte mit Diego sein, denn der sympathische junge Mann verlässt Berlin zur Ausbildung Richtung Ruhrgebiet - er will Pastor werden. Die Route 65 sucht deshalb Jugendliche, die Lust haben, an seiner Stelle durch den Sprengelkiez zu führen.
Nach einer kurzen Einführung geht es in die lebhafte Luxemburger Straße. Hier reihen sich günstige Fast-Food-Läden aller Herren Länder aneinander. Auf wenigen Metern könnte man sich durch mehrere Kontinente futtern - für mich ein echtes Highlight.
Nicht zuletzt wegen der vielen asiatischen Studenten, die in der Gegend leben, findet man allerlei fremdartige Genüsse jenseits von Döner und Falafel, z.B. selbst gemachtes Kimchi (milchsaurer Kohl) beim Koreaner oder Sommerrollen beim Vietnamesen.
Kurz darauf sind wir schon beim „House of Nations“, dem höchsten Haus am Sparrplatz. Ganz exklusiv dürfen wir aufs Dach steigen. Diego erzählt, dass das Studentenwohnheim der Bürgermeister-Reuter-Stiftung sich seinen vorwiegend asiatischen Mietern angepasst hat. Ein Reiskocher gehört zur Grundausstattung.
Auf dem frisch renovierten Dachgarten kann man auch im Grünen sitzen oder eine Grillparty veranstalten. Uns bietet sich ein grandioser Blick über Berlins Mitte. Der Humboldthain ist heute zum Greifen nah, aber auch die Kuppel des Reichstags hinter Bayer-Schering ist gut zu sehen.
Unter uns liegt der Biergarten vom Eschenbräu. Hier ist das Reich von Martin Eschenbrenner, dem Braumeister so wohlklingender Biersorten wie „Roter Wedding“ oder „Alter Schwede“. Wir treffen ihn bei der Arbeit und er stellt uns seine neueste Kreation, einen Obstbrand vor. Für eine weitere Spezialität muss man sich noch etwas gedulden. Aus dem ebenfalls hier erzeugten Apfelsaft reift in Holzfässern schon der erste Calvados Berlins. Na dann: Prost!
Wer übrigens Pech hat und vor verschlossenen Türen steht, kann auf einem digitalen Bildschirm Einblick in den Braukeller nehmen. In den glänzenden Messingkesseln entstehen die charakteristischen Biere des Eschenbräu, meist kräftiger als übliche Biere und vor allem ungefiltert.
Auf dem 2001 vom QM Sparrplatz angelegten Bolzplatz sieht man Ungewöhnliches. Rund 20 dunkelhäutige Männer stehen auf dem Feld und diskutieren, einer hält einen merkwürdigen Schläger in der Hand. Was wird hier gespielt?
Nach kurzem Überlegen dann haben wir es erkannt: Hier gehen Pakistanis ihrem Nationalsport Cricket nach. In allen Commonwealth-Ländern löst diese für uns ziemlich unverständliche, mit Baseball verwandte Sportart fanatische Begeisterung aus. Vielleicht demnächst auch hier?
Die Sonne scheint intensiv. Einer der schönsten Orte im Sprengelkiez ist das Nordufer, wo jetzt endlich wieder alles grünt und blüht. Die Vorgärten der schmucken Gründerzeithäuser am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal sind kleine Blumenparadiese.
Weniger paradiesisch sind wohl die Assoziationen, die so mancher Weddinger mit der Ausländerbehörde jenseits des Kanals verbindet. Diego ist froh, dass er eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung hat.
In der Torfstraße besuchen wir den Afro-Asia-Shop von Herrn Warrich aus Pakistan. Seit 1998 - damals gab es in Berlin kaum Läden mit afrikanischen Produkten - werden hier Dinge verkauft, die uns staunen lassen. Getrocknete Fische aus Afrika sind dabei, merkwürdig aussehende Wurzeln und sogar Shampoo für Dreadlocks.
Exotisches aus Afrika und Asien, von Kochbananen bis Chutney, von Kakaobutter bis Henna, wird hier in friedlicher Koexistenz angeboten. Besonderes Interesse erregt die Outdoor-Wasserpfeife. Aber die ist ein Privatimport aus Pakistan und unverkäuflich, wie uns der lachende Besitzer versichert.
Nach einem letzten Schlenker in die Sprengelstraße löst sich unsere kleine Gruppe auf. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Diego und wünschen ihm alles Gute für die Zukunft. Unser Spaziergang durch ein immer noch unterschätztes Stadtviertel ließ nichts zu wünschen übrig. Außer, dass sich möglichst schnell wieder junge Menschen finden, die uns und andere durch den Sprengelkiez führen möchten.
Diese sollten im Sprengelkiez wohnen, zwischen 15 und 21 und zuverlässig sein. Dafür gibt es eine Qualifizierung, Honorar und hoffentlich jede Menge Spaß (Weitere Infos hier). Die neuen Tour Guides werden dann ihre ganz eigenen Geschichten erzählen aus dem Kiez, in dem Afrika Asien küsst.
Susanne Pozek + Gabi Kienzl
233 66 760 oder 0163 173 00 23
mail[at]route65-wedding[.]de
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In unserem Web-Fotoalbum unter https://plus.google.com/photos/105360314571845805702/albums/5465894559275764465 können Sie alle Fotos durchstöbern.