Wieder liegt ein Wochenende voller spannender Workshops und Vorträge im Rahmen des Wedding Seminars hinter uns. Schwerpunktthema war Stadtgestaltung und -entwicklung, u.a. mit einer Infoveranstaltung zur geplanten S-Bahn-Linie 21 und danach mit einem „Crash-Kurs Gentrifizierung: Nächster Halt Wedding?“ mit 60 lebhaft diskutierenden Teilnehmer/innen.
Das August Bebel Institut im Kurt-Schumacher-Haus hatte diesen „Crashkurs“ in Kooperation mit dem QM Sparrplatz organisiert und den Gentrifizierungs-Experten Andrej Holm eingeladen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Humboldt-Universität forscht und lehrt er zu Gentrifizierung, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und europäischer Stadtpolitik.
Andrej Holm erklärt zunächst den Begriff Gentrifizierung oder Gentrification (von engl. „gentry“ = einfacher Landadel). Der Fachbegriff aus der Sozialwissenschaft wird benutzt, wenn ehemals einfache oder heruntergewirtschaftete Wohn- und Industriequartiere baulich aufgewertet und ärmere Bewohner/innen durch wohlhabendere räumlich verdrängt werden. Das wurde z.B. schon vor Jahrzehnten in Londoner oder New Yorker Stadtvierteln beobachtet.
Lange wurde darüber gestritten, ob man in Berlin von Verdrängung sprechen könne. Bis vor Kurzem war der Wohnungsmarkt noch recht entspannt, manche Wohnungen ließen sich nur schlecht vermieten. Doch die Privatisierung kommunaler Wohnungen, der Hype (nicht zuletzt) um Kreuzberg und Nordneukölln, die europäische Wirtschaftskrise und immer mehr Zuzügler/innen sorgen für eine neue Knappheit vor allem bei günstigem Wohnraum.
Ob es sich dabei um 'Gentrifizierung im Sinne von Verdrängung' handelt ist umstritten, und auch, welche Faktoren zu dieser Dynamik beitragen. Führen die aufwertenden Maßnahmen (vom Sprachkurs bis zur Platzgestaltung) die in einem Quartiersmanagement durchgeführt werden, zur Verdrängung der vorhandenen Bewohnerschaft? Ist es Gentrifizierung, wenn es beim Kiosk plötzlich die sprichwörtliche Latte macchiato gibt? Andrej Holm widerspricht z.B. dem Klischee vom Künstler, der als Pionier auf der Suche nach billigen Atelierräumen zum Gentrifizierer wird. Und auch das Quartiersmanagement war eingerichtet worden, um einer Stigmatisierung und Verslumung von Kiezen entgegen zu wirken und den dort Wohnenden mehr Chancengleichheit zu ermöglichen.
Quartiersmanagerin Özlem Ayaydinli sieht es so: „Natürlich hat der Bau des Sprengelparks den Kiez verschönert. Aber die Anwohner/innen konnten das mitgestalten, und heute profitieren insbesondere die Kinder und Familien davon. Das Quartiersmanagement Sparrplatz unterstützt Projekte, die insbesondere den Benachteiligten im Kiez zugute kommen, z.B. in den Bereichen Kinder- und Jugendförderung, Bildung, Gesundheit und Bürgerbeteiligung. Es geht um gute Nachbarschaft mit allen, die heute hier leben.“
Unbestritten ist die jahrelange Gentrifizierung im Prenzlauer Berg. Seit 1993 seien hier 80% der Bevölkerung ausgetauscht worden, so Andrej Holm. Ohne die Wende, viele Eigentümerwechsel und großflächige Sanierung wäre dieser Prozess nie so rasant gewesen. Heute können sich dort nur die wenigsten eine Wohnung leisten, die durchschnittlichen Einkommen haben sich deshalb im Prenzlauer Berg mehr als verdoppelt.
Holm nennt verschiedene Erklärungsmodelle. Nachfrageseitig kann Gentrifizierung erklärt werden durch neue Lebensstile, demographische Veränderungen, steigende Nachfrage nach einer bestimmten Wohnlage. Eine angebotsseitige Erklärung geht davon aus, dass sich Investoren verstärkt für Immobilien interessieren, weil hier hohe Renditen locken und die Zinsen niedrig sind.
Eine einleuchtende Erklärung liefert die Ertragslückentheorie. Wie im eingespielten Verkaufsfilm mit einem Makler erschreckend deutlich wird, scheint es lohnend, noch relativ billige Mietshäuser zu kaufen und dort durch Modernisierungen und Ablösung alter Mietverträge das Mietniveau heraufzuschrauben. Voraussetzung ist eine steigende Nachfrage der noch immer einfachen Wohngegend, angeheizt durch steigende Mieten in den „besseren“ Quartieren.
Gentrifizierung wird dann zum Problem, wenn Mieter ausziehen müssen, z.B. auf Druck des Vermieters (z.B. Einschüchterung, massive Wohnungsmängel, Umwandlung) oder wegen steigender Miet- und Nebenkosten. Problematisch ist auch, wenn sich das soziale Umfeld verändert oder der eigene Lebensstandard sinkt (z.B. mehr Menschen in einer Wohnung).
In Berlin sieht Holm eine von Stadtteil zu Stadtteil ziehende „Spirale der Gentrifizierung“. So bewegte sich die Nachfrage nach günstigen Wohnungen weg von Prenzlauer Berg über Friedrichshain hinüber nach Kreuzberg und nun Neukölln. Er berichtet, dass derzeit viele Haushalte von Neukölln nach Wedding zögen. Gleichzeitig sinke im Wedding die Zahl der freien Wohnungen, die im Rahmen des Hartz IV-Bezugs bezahlbar wären.
Zitiert wird Professor Harald Simons, Verfasser des Wohnungsmarktberichts der Investitionsbank Berlin, der am 27.08.2012 in der Berliner Zeitung sagte: “Nach unseren Analysen wird es zum Beispiel das Brunnenviertel sein, das Gebiet rund um den Humboldthain, der Sparrplatz – der ganze südliche Wedding.“ Simons im selben Artikel: „In zwei, drei Jahren werden wir über eine Gentrifizierung im Wedding öffentlich reden. Bis sich die Bevölkerungsstruktur verändert hat, wird es aber zehn Jahre und länger dauern.“ (Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/dossiers/professor-harald-simons--bald-reden-wir-ueber-gentrifizierung-im-wedding-,10809316,18318044.html)
Auch aus dem Publikum kommen Stimmen: „Unser Haus wurde schon dreimal weiter verkauft“, „Ich suche dringend eine Wohnung im Sprengelkiez“, oder „Unsere Miete ist gestiegen“. Bei der Mieterberatung in der Triftstraße ist der Andrang allerdings noch nicht groß, so Herr Koch vom Berliner Mieterverein.
Von den Anwesenden wurden viele Ideen geäußert. Will man den negativen Verdrängungseffekten etwas entgegensetzen und sich für mieterfreundliche Regelungen stark machen, sind mehrere Dinge wichtig: Der Zusammenschluss der Betroffenen, z.B. durch Hausversammlungen, kompetente Mieterberatung z.B. von Mieterverein und Mietergemeinschaft, und natürlich auch politisches Engagement, sei es bei den Abgeordneten, in Versammlungen oder auf Demonstrationen. Mit den eigenen Erfahrungen beteiligen kann man sich bei „Mieter beobachten den Wohnungsmarkt“, einer Aktion des Berliner Mietervereins: http://www.berliner-mieterverein.de/immowatch/index.htm
Am 18.3. trifft sich übrigens die Weddinger Runde erstmals öffentlich zum Thema. Mehr dazu demnächst hier auf der Webseite.
Kein Wunder: Bei dem existierenden Mietrecht versuchen Vermieter, immer höhere Mieten zu erzielen. Gleichzeitig steigt die Nachfrage, denn immer mehr Menschen ziehen nach Berlin. Die Aufwertung bestimmter Viertel ist an sich nichts Schlechtes, kann aber diejenigen in Bedrängnis bringen, die die Mieten nicht mehr bezahlen können. Umwandlungen von Miet- in Eigentums- und Ferienwohnungen verschärfen das Problem.
Mittlerweise hat die Politik die Brisanz des Themas erkannt, neue Initiativen für bezahlbares Wohnen sind von Parteien und in den Kiezen gestartet worden. Bleibt abzuwarten, wie ernsthaft sich alle dafür einsetzen, dass die soziale Mischung in den Kiezen erhalten bleibt.
Weiterer Diskussionsstoff unter:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gentrifizierung
http://unkultur.olifani.de/?p=218
und in Andrej Holms Blog: www.gentrificationblog.wordpress.com